Robin Wall Kimmerer, Hochschulprofessorin für Biologie, erzählt in ihrem Buch „Geflochtenes Süßgras“ von einem Schreib-Workshop zum Thema Beziehungen zum Land. Alle Studierenden fühlten eine tiefe Zuneigung zur Natur. Sie sei der Ort, der sie am stärksten ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Wohlbefindens empfinden ließ. Freimütig erklärten sie, dass sie die Erde liebten. Und dann fragt sie ihre Studenten: „Glauben Sie, die Erde erwidert Ihre Liebe?“ Sprichwörtliches Schweigen im Walde. Sie fragt weiter: „Was, denken Sie, würde passieren, wenn die Menschen an diese verrückte Vorstellung glauben würden, dass die Erde Ihre Liebe erwidert?“ Nun sprudelten die Antworten und eine Studentin fasste es so zusammen: „Wenn etwas Liebe schenkt, würde man ihm niemals Schaden zufügen.“ Zu wissen, dass man die Erde liebt, verändert einen. Man möchte schützen, was man liebt.
„Doch wenn man spürt, dass die Erde einen wiederliebt, verwandelt sich die Beziehung von einer Einbahnstraße in eine heilige Verbundenheit.“
Gebe ich mich also für einen Moment dieser verrückten Vorstellung hin, dass die Erde uns liebt. Dass die Bäume uns lieben, mit denen wir aufs Innigste verbunden sind. Sie atmen Kohlendioxid ein und atmen Sauerstoff aus. Wir atmen Sauerstoff ein und atmen Kohlendioxid aus. Geben und Nehmen. Unsere frühesten Vorfahren lebten in Bäumen. In ihnen fanden sie Schutz vor den Gefahren, die am Boden lauerten und vor den Unbilden des Wetters und der Jahreszeiten. Die Bäume ernährten sie mit ihren Früchten. Im Lateinischen klingt diese tiefe Beziehung nach: Das Holz der Bäume heißt materia. Und materia hat dieselbe Wurzel – ja, Wurzel – wie das Wort mater = Mutter. Seit es uns gibt, haben uns die Bäume versorgt wie eine gute Mama. Was für eine verrückte Vorstellung, dass wir geliebt werden! Sind wir deshalb so gerne im Wald, fühlen uns von großen alten Bäumen magisch angezogen?
Es ist Sommer. Die Linden vor meinem Haus blühen, die Obstbäume ziehen ihre Früchte groß. In meiner Felsenbirne können es Amseln und Tauben nicht abwarten, bis die Früchte rot sind, schon jetzt munden ihnen die grünen Beeren. Die Bäume teilen freigiebig ihre Geschenke für Leib und Seele aus. Was für eine verrückte Vorstellung, dass dies aus Liebe geschieht. Und wenn es wahr wäre?
Ich wünsche Ihnen viel Zeit im Grünen. Zeit, unter Bäumen zu wandeln oder zu sitzen. Zeit, ihre Früchte zu genießen. Ich wünsche Ihnen Zeit der Muße. Einfach da sein. Herz und Hände offen für die Geschenke, die uns allenthalben angeboten werden.
Mit sommerlichen Grüßen
Ihre Pfarrerin Silvia Koch-Barche